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Channel: Gisbert L. Brunner
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Neu von Moritz Grossmann Glashütte: Das Haar in der Uhr

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Haare in der Suppe sind jedem Koch ein Gräuel. Gleiches gilt aber auch für Uhrmacher, denn hier vermag schon ein einziges Exemplar oder auch nur ein Teil davon den unliebsamen Stillstand des Mechanismus zu bewirken. Freilich kann man auch, wie Moritz Grossmann im sächsischen Glashütte brandaktuell belegt, aus der Not eine Tugend machen. Geschäftsführerin Christine Hutter, ihres Zeichens gelernte Uhrmacherin, und der mit allen schöpferischen Wassern gewaschene Chef-Konstrukteur Jens Schneider haben dem neuesten Handaufzugskaliber 103.0 mit Zweidrittelplatine, Durchmesser 38,4 Millimeter, nämlich gleich ein ganzes Bündel Haare verpasst.

Jens Schneider und Christine Hutter

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Rückseite des Kalibers 103.0 

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Unterzifferblattansicht des Kalibers 103.0

Zusammengehalten von einem kleinen Ring und etwas Schelllack. Der solcherart geformte Pinsel bewirkt das Anhalten des Uhrwerks. Und zwar völlig beabsichtigt zum Zweck akkurater Zeigerstellung. Beim Ziehen der Krone schwenkt das in mechanischen Zeitmessern völlig ungewöhnliche und deshalb samt dem zugehörigen Mechanismus zum Patent angemeldete Bauteil gegen den Gangregler. Behutsamer Druck beendet die Rotationen. Die Uhr steht.

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Der kleine Pinsel stoppt das Uhrwerk

Die Reaktivierung erfolgt einmal mehr durch Betätigung des kleinen Drückers unterhalb der Aufzugs- und Zeigerstellkrone.

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Startet das Uhrwerk wieder: Der kleine Drücker neben der Krone

Die ausgeklügelte haarige Angelegenheit ist freilich nur ein Aktivposten dieser brandneuen Weißgold-Armbanduhr. Pünktlich zum fünften Jahrestag der Firmengründung lanciert Moritz Grossmann Glashütte i/Sa nämlich auch seine erste Komplikation in Gestalt eines fliegend gelagerten Tourbillons. Während ich das schreibe, höre ich schon manch einen aufstöhnen mit den Worten „noch ein Tourbillon“. Der Seufzer lässt sich sogar irgendwie nachvollziehen, denn der Markt ist förmlich überflutet von Drehganguhren. Überdies tragen inzwischen auch chinesische Fabrikanten kräftig zur Inflationierung bei.

Aber das sächsische Startup, hinter dem ambitionierte Investoren aus der Schweiz und Deutschland stehen, strebte alles andere an als ein reines me-too-Verlegenheitsprodukt. Der mit klassischen 2,5 Hertz tickende Newcomer steht konstruktiv und handwerklich voll und ganz in der Tradition Glashütter Uhrmacherkunst. Wer etwas von überlieferten Prinzipien versteht, erkennt bereits beim ersten Blick auf das äußerst sorgsam finissierte Werk, dass hier die tradierte Drittelung des verfügbaren Platzes zwischen Antrieb (Federhaus), Verteilung (Räderwerk) und Gangregelung wie eh und je zur Freude konventionell denkender Uhrenliebhaber beibehalten wird.

 Zum ersten: das Tourbillon

Beginnen wir bei Letztgenanntem. Der Käfig des insgesamt 700 Milligramm leichten Tourbillons misst stolze 16, die darin untergebrachte Unruh 14,2 Millimeter. Für einen vollständigen Umlauf benötigt der nach den gegen 1920 postulierten Grundsätzen des Glashütter Altmeisters Alfred Helwig konzipierte Drehgang nicht eine sondern ganze drei Minuten. Das spart natürlich Kraft, welche der Gangautonomie des Gesamtkunstwerks zu Gute kommt. Frische Energie benötigt es (rein theoretisch) erst nach 72 Stunden. Aber wer einmal in den Genuss des Drehens an der griffigen Krone gekommen ist und den butterweich funktionierenden Aufzug erlebt hat, wird sicher jeden Tag mindestens einmal zur Tat schreiten. Die üppige Gangreserve leistet dann ihren Beitrag zu einer stabilen Unruh-Amplitude und dem erwünschten Isochronismus der Oszillationen. Zu diesem uhrmacherisch bewegenden Thema an dieser Stelle nur so viel: Jede Spirale besitzt -in Verbindung mit der zugehörigen Unruh- eine bestimmte Länge, bei der alle Schwingungen, egal ob groß oder klein, gleichlang dauern. Wurde diese richtige Länge einmal gefunden, wirkt sich jede Veränderung auf das Schwingungstempo aus.

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Das Grossmann’sche Drei-Minuten-Tourbillon 

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Rückseitiges Tourbillon-Lager und Räderwerk des Kalibers 103.0

Apropos Spirale: Grossmann verwendet eine aus dem bewährten Material Nivarox. Ihre äußere Kurve ist nach den Erkenntnissen des französische Spiralenpapstes Edouard Phillips, welche der legendäre Glashütter Glashütter Regleur Gustav Gerstenberger auf seine Weise noch perfektionierte, manuell hochgebogen. Infolge der so genannten „gestürzten“ Bauweise des fliegenden Tourbillons weist die Endkurve allerdings nach innen. Bei diesem neuen Kaliber nutzt Grossmann erstmals die Vorteile, welche ein variables Trägheitsmoment der hauseigenen Glucydur-Unruh verschafft. Die Regulierung des Gangs allein durch Masseschrauben mit unterschiedlicher Kopfhöhe macht den nicht unbedingt günstigen, weil das gleichförmige Atmen der Unruhspirale beeinträchtigenden Rückermechanismus zur Veränderung ihrer aktiven Länge entbehrlich.

Besonderes Merkmal des einerseits hemmenden und zum anderen impulserteilenden Elements ist ein zweiteiliger, ungleichnamig gestalteter Anker mit feiner Gabel sowie Sicherheitsmesser nach dem Vorbild Glashütter Taschenuhren. Tourbillons mit zentral im Käfig gelagerter Unruh bedingen eine laterale Ausführung dieses Bauteils mit sichtbaren Saphir-Paletten. Dessen Auslenkungen begrenzt ein kleiner Stift an der Verlängerung der im rechten Winkel zu den Paletten positionierten Ankergabel.

Zum zweiten: der Antrieb

Als Kraftquelle dient dem Kaliber 193.0 ein großes, ungewöhnlich zwischen dem Sperrrad und der Werkplatte in zwei Steinen gelagertes Federhaus. Beim Blick durch die zentrale Öffnung des oben liegenden Sperrrads erkennt man einen der insgesamt vier verschraubten Goldchatons. Bei dieser nicht alltäglichen Konstruktion erstreckt sich die Federhauswelle berührungslos durch den hohlgebohrten Federkern vom inneren zum äußeren Lager. Der hohe Aufwand dient der Stabilisierung des Energiespeichers. Dem modifizierten Gesperr Glashütter Bauart kommen zwei Aufgaben zu: Einmal sorgt es dafür, dass sich die Kraft nur noch in Richtung des Räderwerks entladen kann. Außerdem eliminiert es durch einen leichten Rückwärtsdreh das anfänglich extrem hohe Drehmoment der Zugfeder.

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Rechts oben: Das Federhaus des Kalibers 103.0

Aller guten Dinge sind drei: das Räderwerk

Bleibt zum Dritten das aus der harten, amagnetischen ARCAP-Legierung gefräste Räderwerk. Die Verlängerung der Umlaufgeschwindigkeit des Tourbillons von einer auf drei Minuten bedingt naturgemäß ein weiteres Zahnrad. Außerdem erfordert sie einen separaten Sekundenzeiger in diesem Fall –ähnlich Chronographen- bei der „9“ am Zifferblatt. Der indirekte, also außerhalb des eigentlichen Kraftflusses angeordnete Antrieb dieser Indikation verlangt nach einer Friktion, welche dem Spiel von Zahnrad und –trieb entgegenwirkt und gleichförmige Zeigerdrehung bewirkt. Hätten es sich Jens Schneider und sein Team einfach gemacht, wäre beispielsweise eine simple Feder zum Einsatz gekommen, welche gegen das innere Ende der Zeigerwelle drückt. Dieses System hat sich in den 1940-er bis 1960-er Jahren millionenfach bewährt, passt aber nicht zur Grossmann-Philosophie. Deshalb haben die Entwickler einmal mehr die Vergangenheit bemüht. Im 18. Jahrhundert verwendete der gelernte englische Zimmermann John Harrison, dem die Welt das damals präziseste Schiffschronometer namens H4 verdankt, in einigen seiner Uhren stark ölhaltige Holz-Bauteile. Beispielsweise wirkten in Pendeluhren schmierungsfreie Holzzahnräder Gangabweichungen durch verharzendes Öl entgegen. Im Werk des Benu Tourbillon findet sich als Friktionselement ein Ring aus sehr schwerem, hartem und vor allem harzreichem Guajak, besser bekannt als Pockholz. Dagegen drückt eine kleine, natürlich einstellbare Bronzefeder.

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Links der Pockholz-Ring, gegen den eine Bronzefeder drückt

Verliebt ins Detail

Der Stundenzeiger dieser Armbanduhr ist ganz bewusst rechts am Zifferblatt angeordnet. Auf diese Weise lugt zum besseren Ablesen unter der linken Manschette hervor. Bei näherer Betrachtung des Zifferblatts sticht schließlich noch ein kleines, bogenförmiges Kreissegment ins Auge. Es verbindet die beiden Nebenzifferblätter, wurde von Grossmann zum Patent angemeldet und dient einzig und allein dem genauen Ablesen der Minuten. Der handgefertigte, im Zifferblatt-Zentrum drehende Zeiger besitzt ein langes und ein kurzes Ende. Wenn das prominent bei „6“ positionierte Tourbillon die Indexierung zwischen 25 und 35 unterbricht, kooperieren zehn Minuten lang der Zeigerstummel und die obere Hilfsskala.  

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Dass jedes der nur 50 Exemplare dieser Weißgold-Armbanduhren seinen Preis hat, mag sich am Ende der Betrachtungen beinahe von selbst verstehen. Christine Hutter hat –natürlich unverbindlich- 168.000 Euro angesetzt. Wer zur Serie greift, bekommt sogar etwas vom blonden Haupthaar der Chefin mitgeliefert. Selbiges dient zur Herstellung des eingangs erwähnten Tourbillonstopp-Pinsels. Weil bei Grossmann das Prinzip der Individualisierung gilt, ist es aber auch denkbar, dass Interessenten an diesem Zeitmesser eigene Haare oder die von Frau, Tochter oder Sohn zum Zweck des Einbaus anliefern. Jens Schneider weiß, wie man damit umgeht. Und er stellt durch ausgeklügelte Pinselfertigung sicher, dass keines der Haare den akkuraten Gang des Tourbillons auf ungewollte Weise stört.


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