Wie oft ich seit Anfang der 1990-er Jahre nach Dresden und Glashütte gereist bin, kann ich beim besten Willen nicht mehr zählen. Ein Trip ist mir noch in besonders guter Erinnerung. Während ich das schreibe, scheint es so, als sei es gestern gewesen. Günter Blümlein hatte ins Dresdner Schloss zur Präsentation der ersten Kollektion nach der Wiedergeburt der großen deutschen Traditionsmanufaktur A. Lange & Söhne geladen. Und nicht nur ich begab mich am 24. Oktober 1994 höchst neugierig ins Land der Sachsen. Dass uns Großes und Großartiges bevorstehen würde, hatte mir Günter Blümlein, dem ich 1983 bei der Schaffhauser IWC erstmals begegnet bin, schon andeutungsweise verraten. Aber das Erstaunen über die erbrachten Leistungen und die neuen Uhren übertraf dann doch alle Erwartungen. Doch davon später.
Starten möchte ich mit einer Rückblende ins Jahr 1988: Hätte ein Journalist damals folgenden Kommentar verbreitet, wäre er mit Sicherheit mitleidig belächelt worden:
„Die Rückkehr der deutschen Uhrenfabrikanten in die Uhrenszene verdient sowohl einen Glückwunsch wie besondere Aufmerksamkeit. Und sie ist nach ihrem echten Stellenwert zu würdigen: Angezeigt ist weder Euphorie noch die hier und da zu beobachtende ironische Süffisanz. … Die Schweizer Uhrenhersteller sollten das Signal voll und ganz beherzigen, im Bewusstsein, dass ererbte Pfründe vergänglich und einst erworbene Lorbeeren ein gefährliches Beruhigungsmittel sind.“
Als diese Zeilen tatsächlich in der Schweizerischen Uhrenzeitschrift „L’Hebdo“ erschienen, schrieb man das Jahr 1995. Damals sahen die eidgenössischen Fabrikanten definitiv ein wenig alt aus. Bei der Wahl zur „Uhr des Jahres“ errang die legendäre „Lange 1” von A. Lange & Söhne den Spitzenplatz.
Die legendäre Lange 1
Seitdem hat die Glashütter Nobelmanufaktur diese und andere Trophäen gesammelt wie andere Bierdeckel.
Von solchen internationalen Meriten hätte der selbst mehrfach ausgezeichnete Uhrmacher Adolph Lange 1845 nicht einmal zu träumen gewagt.
Adolph Lange
Dem Philanthropen war die immense Arbeitslosigkeit im sächsischen Glashütte nicht nur zu Ohren gekommen, sondern auch ein echter Dorn im Auge. Deshalb richtete er mehrere Petitionen an den sächsischen Staat. Seine Bitte: Ein rückzahlbares Darlehen, damit er im abgeschiedenen Tal des Flüsschens Müglitz 15 Jugendliche zu Uhrmachern ausbilden konnte. Am 31. Mai 1845 unterzeichnete F.A. Lange einen entsprechenden Vertrag. Nach Abschluss der dreijährigen Ausbildung sollten die Jugendlichen weitere fünf Jahre in Langes Betrieb arbeiten. Die Kosten ihrer Ausbildung mussten sie währenddessen In kleinen Wochenraten abzustottern. Die erste Lehrlings-Liste mutete ausgesprochen kurios Sie umfasste einen Malgehilfen zwölf Strohflechter, vier Dienstburschen, einen Landwirtschaftsgehilfen, einen Steinbruch und einen Winzereiarbeiter. Einigen dieser „Naturburschen” musste Lange sehr zu seinem Leidwesen schon nach kurzer Zeit die berufliche Nichteignung bescheinigen. Andere verabschiedeten sich von alleine, weil ihnen die filigrane Arbeit nicht behagte. Nur ein Teil hielt eisern durch und bildete später den Stamm der ersten Lange-Mannschaft.
Obwohl sich Adolph Lange über alle Maßen engagierte, drohte das ambitionierte Unternehmen mehrfach zu scheitern. Zum einen fehlte es an qualifiziertem Personal und andererseits mangelte es immer wieder an Geld. Trotz dieser Probleme investierte Lange sein persönliches Vermögen und auch das seiner Frau. Letzten Endes machte sich der Einsatz dann doch bezahlt.
Stammhaus A. Lange & Söhne in Glashütte 1873
Als Adolph Lange 1875 starb, hinterließ er seinen Söhnen und Enkeln nicht nur einen florierenden Betrieb mit rund 100 Mitarbeitern, sondern auch eine Vielzahl höchster internationaler Auszeichnungen. Glashütte verdankt Lange, der 18 Jahre lang das Amt des Bürgermeisters innehatte, die Entwicklung zum Mekka der deutschen Feinuhrmacherei. Nahezu unzählige Kleinbetriebe und Spezialwerkstätten für Uhren und Uhrenbestandteile entstanden unter der Ägide Langes. Hinzu gesellten sich weitere Manufakturen für Klein- und Großuhren.
Das umfassende internationale Renommée des Hauses A. Lange & Söhne erreichte allerdings keine davon. Immerhin füllt die Palette komplizierter Lange-Zeitmesser Bände.
A. Lange & Söhne Grande Complication von 1902
Diese -und damit schließt sich der Kreis fürs Erste- konnten sich freilich nur ausgesprochen betuchte Zeitgenossen leisten. Doch auch die „normalen” Modelle mit dem 1864 konstruierten und bis 1948 verwendeten Dreiviertelplatinen-Uhrwerk waren rein preislich nicht jedermanns Kragenweite.
Neben den feinen Präzisions‑Taschenuhren
A. Lange & Söhne Beobachtungs-Taschenuhr von 1935
und Marinechronometern dürfen die großen Flieger‑Armbanduhren mit Taschenuhrwerk nicht vergessen werden.
A. Lange & Söhne große Flieger-Armbanduhr 1944
Sie wurden während des Zweiten Weltkrieges an die Deutsche Luftwaffe gelieferte. Daneben gab es bei Lange bis 1945 auch eine ganze Reihe “ziviler” Armbanduhren, in denen jedoch neben Glashütter Rohwerken häufig auch Schweizer Fabrikate - z.B. Altus- tickten.
Fast exakt 100 Jahre nach der Firmengründung, am 8. Mai 1945, wütete die Zerstörungskraft russischer Kampfflugzeuge in Glashütte. Die Metropole der deutschen Präzisionsuhrmacherei erlitt schwerste Schäden.
Zerbombtes Glashütte im Jahr 1945
Was danach an brauchbaren Maschinen und Werkzeugen übrig geblieben war, demontierten russische Truppen, um es gen Osten zu schaffen. Gleichwohl gab es schon 1946 erste Nachkriegs-Uhren Glashütter Provenienz. Am 1. Juli 1951 kam es zur Gründung des volkseigenen Betriebs (VEB) “Glashütter Uhrenbetriebe ‑ GUB”, in dem alle Aktivitäten von A. Lange & Söhne und anderen Glashütter Uhrenmarken aufgingen. Dieses Firmen-Sammelsurium produzierte fortan gezwungenermaßen einen sozialistischen Massen-Einheitsbrei. Mit traditionellen Top-Standards hatte dieser kaum noch etwas zu tun. Im Westen Deutschlands in der Welt lebte der Name Glashütte allein von der Vergangenheit, während für feine Uhren fortan primär die Schweiz zuständig war.
Mit Rückblick auf den überfälligen Fall der Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands im Jahr 1989 gelangen weitere Visionäre ins Spiel, denen Glashütte unendlich viel zu verdanken hat. Einer davon heißt Günter Blümlein.
Günter Blümlein, gestorben 2001
Nach der Quarz-Revolution in den 1970-er Jahren bewahrte der stets mehrere Jahre vorausblickende Deutsche die Traditionsmanufakturen IWC und Jaeger-LeCoultre nicht nur vor dem Untergang bewahrt, sondern er führte sie zu bemerkenswerter neuer Blüte. Die Kunde von der möglichen Wiedervereinigung ließen beim Ingenieur und Delegierten des Verwaltungsrats besagter Schweizer Marken die Alarmglocken schrillen. Gab es da nicht ein ostdeutsches Kleinod namens A. Lange & Söhne, das dringend seiner Renaissance harrte?
Die Möglichkeit, jene Manufaktur wiederzubeleben, welche hundert Jahre lang die weltweit besten Taschenuhren hergestellt hatte, elektrisierte einen weiteren Visionär, nämlich den gelernten Uhrmacher Albert Keck, seines Zeichens Aufsichtsratschef des Tachometerfabrikanten VDO, unter dessen Dach IWC und Jaeger-LeCoultre höchst erfolgreich agierten.
So läutete irgendwann im Winter 1989 das Telefon bei Walter Lange, dem Enkel des Adolph Lange.
Walter Lange, 90
Stammbaum der Lange-Gutkaes-Uhrendynastie
Visionär hatte auch er schon immer von einer Wiedergeburt der altehrwürdigen Signatur A. Lange & Söhne geträumt. Ergo ließ es sich nicht lange zur Teilnahme an einem Round-Table-Gespräch mit Albert Keck und Günter Blümlein bitten. Bereits 29. November 1990 unterzeichneten er und das VDO-Management den zukunftsweisenden Vertrag zur Gründung der Lange Uhren GmbH, die aus Glashütte wieder das machen sollte, was es zu Zeiten vor der Deutschen Demokratischen Republik gewesen war: ein anerkanntes Mekka feinster Präzisionsuhrmacherei.
Vor dem Denkmal von Adolph Lange: Günter Blümlein, Walter Lange und Hartmut Knothe, aufgenommen 1994
Bis zur Vorstellung der ersten Neuzeit-Kollektion zogen damals vier lange, für Günter Blümlein und Walter Lange viel zu lange Jahre durch die Lande.
An besagtem 24. Oktober 1994 war endlich so weit.
Günter Blümlein, Walter Lange und Hartmut Knothe 1994 neben den vier ersten Modellen der Neuzeit-Kollektion von A. Lange & Söhne
Bezüglich der Modellvorstellung im berühmten Dresdner Schloss erlaube ich mich selbst zu zitieren:
„Wie jüngst eindrucksvoll zu sehen war, geht A. Lange & Söhne nach der Wiedergeburt gleich in die Vollen. Den Neubeginn markieren vier unterschiedliche, in geringen Stückzahlen gefertigte Uhrenlinien:
Die „Lange 1” ist eine Herrenarmbanduhr mit dezentraler Stundenanzeige, kleiner Sekunde, großflächiger Gangreserveindikation und Groß-Datumsanzeige. Letztere zeigt die Einer des Datums durch einen Ring und die Zehner durch ein Kreuz an. Für den Antrieb sorgen zwei in Serie geschaltete Federhäuser, und zwar pro Aufzugsvorgang drei Tage lang.
„Arkade” heißt ein mechanisches Damen-Modell mit Groß-Datumsanzeige und Formgehäuse.
A. Lange & Söhne Arkade für Damen
Bei der „Saxonia” mit Großdatum handelt es sich um eine schlichte runde Gold-Armbanduhr mittlerer Größe. Ideal geeignet für den auf echtes Understatement bedachten Banker oder Geschäftsmann.
Die A. Lange & Söhne Saxonia ist als dritte Uhr von links zu sehen
An der Spitze rangiert das „Lange Tourbillon - pour le mérite”. Die konstruktiven Merkmale des neuen Lange-Modells fallen aus dem Rahmen des Üblichen: Dreiviertelplatine, Antrieb über Kette und Schnecke für ein möglichst konstantes Drehmoment, Stufen-Planetengetriebe für gleichmäßigen Antrieb während des Handaufzugs, Drehgestell beidseitig in geschraubten Goldchatons mit Diamantdecksteinen gelagert.
A. Lange & Söhne Tourbillon “pour le mérite”
Hernach führte ich ein kurzes Gespräch mit Günter Blümlein, dem 2001 leider viel zu früh gestorbenen ersten Geschäftsführer der Lange Uhren GmbH in Glashütte. Dessen Wortlaut möchte ich meinen Lesern an dieser Stelle nicht vorenthalten:
Gisbert Brunner: Reden wir über A. Lange & Söhne, nach der Präsentation der faszinierenden neuen Uhren hier in Dresden ganz offensichtlich das aktuelle Lieblingskind in eurem Markenportfolio. Wie seid ihr denn überhaupt auf und an diese deutsche Traditionsmarke gekommen?
Güter Blümlein: Diese Verbindung reicht schon viel weiter zurück als die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland. Im Grunde genommen suchten Walter und Ferdinand Lange bereits in den sechziger Jahren nach einem Revival der angesehenen Uhrenmarke im Westen. Sie träumten von Taschenuhren im bekannten Lange-Stil. Und sie hatten sogar eine Lange-Taschenuhr mit dekoriertem und entsprechend signiertem IWC-Kaliber gefertigt. Aber der Traum mußte damals zu einem jähen Erwachen führen. Für Lange & Söhne Uhren nach ihren Vorstellungen gab es am Markt keinen Platz. Trotzdem schlummerte die Idee in den Köpfen. Mit dem Fall der Mauer wurde sie wieder wach. Beim Mannesmann-Vorstand Dr. Keck, einem ausgebildeten Uhrmacher mit Glashütter Lehrmeister, fielen die Gedanken auf fruchtbaren Boden. So kam es Ende 1989 zu ersten Kontakten, die im Frühjahr 1990 ihre Fortsetzung fanden. In Glashütte gab es hervorragend ausgebildete Menschen. Und dieses Potential konnte man im Hinblick auf neue Uhren “Made in Germany” trefflich nutzen.
Gisbert L. Brunner: Interessierte der Glashütter Uhrenbetrieb damals nicht?
Günter Blümlein: Doch, natürlich. Wir standen auch in intensiven Verhandlungen. Aber mit den alten „Rotsocken” gingen die Dinge nicht so recht voran. Und dann kam uns die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sehr zu Hilfe. Plötzlich brauchten wir die GUB nicht mehr. A. Lange & Söhne konnte alleine. Damals rechnete ich noch mit einem Anschub-Finanzbedarf von etwa 500.000 Mark.
Gisbert L. Brunner: Wohl eine echte Fehl-Einschätzung der Situation.
Günter Blümlein: Zugegeben. Anfangs fehlte uns allen noch jenes Konzept, welches A. Lange & Söhne wieder ins einsame Spitzensegment der Uhrenbranche führen würde. Als wir uns dann einig waren, wußten wir auch, daß wir für das, was hier in Dresden soeben zu sehen und erleben war, an eigenen Kalibern und damit verknüpft an immensen Entwicklungskosten in Millionenhöhe nicht vorbeikommen würden.
Günter Blümlein bei der Vorstellung der Neuzeit-Kollektion von A. Lange & Söhne 1994
Gisbert L. Brunner: Das gewaltige Investment sieht man denUhren in jedem Detail an. Mit welchen Gefühlen geht man als Geschäftsführer in eine derartige Präsentation?
Günter Blümlein: Ehrlich gesagt konnten wir recht zuversichtlich in diese Veranstaltung gehen, denn zwölf bedeutende Juweliere im deutschsprachigen Raum hatten unsere neue Kollektion schon vorher in Augenschein genommen und ausgesprochen positiv reagiert. Meine ersten Sorgen, dass unsere Produkte vielleicht nicht ankommen würden, erwiesen sich als völlig unbegründet. So gesehen konnten wir den angereisten Journalisten mit Optimismus in die Augen schauen.
Günter Blümlein erläutert Journalisten die neue Uhrenkollektion von A. Lange & Söhne
Die Neuigkeit zum 20. Jubiläum darf ich, obwohl ich sie schon in meinem Computer habe, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht posten. Aber spätestens morgen früh ist sie online. Genauso wenig kann ich verraten, wer den diesjährigen Award gewonnen hat. Interessanter Weise erreichten mich nach der Vorstellung der sieben eingereichten Arbeiten gleich mehrere Anrufe, die unisono auf den gleichen Sieger tippten. Ihnen möchte ich verraten, dass sie mit ihrer Vermutung gar nicht so falsch lagen. Gratulation.
Also bitte morgen wieder an dieser Stelle vorbeischauen.