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Channel: Gisbert L. Brunner
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(K)ein mysteriöser Geburtstag

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Für Cartier ist das Jahr 1904 in mehrerer Hinsicht bedeutsam. Zum einen kreierte „Monsieur Louis“ mit der legendären „Santos“ einen echten Superlativ. Er emanzipierte den ans Handgelenk geschnallten Zeitmesser erstmals von Taschenuhrdesign und behauptet sich seit nunmehr 109 Jahren ununterbrochen und gestalterisch weitgehend unverändert am Markt. Und das kann keine andere Armbanduhr von sich behaupten.

Cartier “Santos” von 1911

Im gleichen Jahr 1904 startete Cartier, und das sollte sich später noch als echter Glücksfall erweisen, eine langfristig angelegte Kooperation mit dem am Pariser Boulevard Sébastopol angesiedelten Werkefabrikanten Prévost. In dessen Ateliers perfektionierte Maurice Coüet seine uhrmacherischen Kenntnisse. Der 1885 Geborene zeichnete sich nicht nur durch überragende handwerkliche Fertigkeiten aus, sondern auch durch seinen ausgeprägten Erfindungsgeist. Coüet initiierte bei Cartier einen echten Umbruch, denn er untermauerte seine ständig neuen Ideen mit mathematischen Lehrsätzen. Außerdem liebte es der Uhrmacher, durch mechanische Illusion zu verblüffen. Dabei stützte er sich u.a. auf Kreationen des 1593 geborenen Nicolas Grollier de Servières. Gemeint sind dessen „Horloges mystérieuses”, die schon im 17. Jahrhundert als tickende Weltwunder galten.

1913, also vor exakt 100 Jahren präsentierte besagter Maurice Coüet seinem Arbeitgeber Cartier die erste „Pendule Mystérieuse”. Wie lange er zuvor mit dem Projekt schwanger gegangen war, ist nicht mehr bekannt. Sicher ist jedoch, dass Coüet auch frühere Exemplare von Robert-Houdin (1805-1871) und Guilmet  kannte. Seine eigenen Kreationen faszinierten durch den optisch vordergründig nicht nachvollziehbaren Antrieb der scheinbar im luftleeren Raum rotierenden, weil auf außen gezahnten Glasplatten befestigten Zeiger. Die Kraftübertragung vom Uhrwerk im Gehäusesockel erfolgte durch ein spiraliges, seitlich drehendes Achsen-System.

Mysteriöse Pendule von Cartier

Als ersten Käufer des „Modell A” nennen die Cartier-Archive den amerikanischen Bankier Pierpont Morgan jun. In den anschließenden Jahren folgten andere Versionen, darunter auch solche mit Zentralachse. 1925 schwärmte die französische „Gazette des Guten Tons“ von „Wunderwerken der Uhrmacherkunst”. „Unwirklich und wie aus Mondstrahlen gewoben enthüllen sie das Mysterium der Zeit.” Logischer Weise bedingten eine aufwändige Fertigung und kostbare Dekors beispielsweise mit edlen Steinen exorbitante Preise. Exakt das und die Seltenheit motivierten zahlungskräftige Kundschaft aus aller Welt zum Kauf der vermutlich weniger als neunzig Exemplare, welche zwischen 1913 und 1930 entstanden.

Eines davon fand übrigens ein unrühmliches und wenig erbauliches Ende. Von ihm berichtet die Herzogin von Westminster in ihren Memoiren. Während eines nächtlichen Ehekrachs zerschellte die mechanische Kostbarkeit an der Wand des Schlafzimmers.

Pünktlich zum 100.Geburtstag der mysteriösen Pendule findet die hinreißende Kunst geheimnisvoller Stunden- und Minutenindikation in der Linie “Rotonde de Cartier” ans Handgelenk. Chef-Uhrmacherin Carole Forestier und ihr ambitioniertes Team haben gleich zwei Versionen entwickelt.

Carole Forestier

Bei der einfacheren Ausführung scheinen zwei Zeiger wie eh und je völlig frei im Raum zu schweben. Möglich machen es, und auch das kann als Reminiszenz an die glorreiche Vergangenheit gelten, zwei übereinander positionierte und außen verzahnte Saphirglasscheiben.

Das Duo ist integrierter Bestandteil des darum gebauten Handaufzugskalibers 9981MC mit 48 Stunden Gangautonomie.

Cartier betrachtete es als Ehrensache, die geheimnisvolle Mechanik auf Herz und Nieren zu testen. Stöße in der Größenordnung des 500-fachen Eigengewichts und Stürze aus einem Meter Höhe konnten dem Uhrwerk nichts anhaben.

Uhrmacherisch mehr als nur eine Stufe darüber rangiert das Top-Modell des Jahres 2013 mit dem Manufakturkaliber 9454 MC.

Sein Spezifikum besteht in einem mysteriösen Zweifach-Tourbillon. Besonders augenfällig setzt sich hier das „fliegende“ Titan-Drehgestell in Szene. Pro Minute vollzieht es zur Kompensation der negativen Schwerkrafteinflüsse eine komplette Rotation. Hinsichtlich des Antriebs scheint keine Verbindung zum fein dekorierten Handaufzugswerk zu bestehen. Diese Armbanduhr belässt es freilich nicht mit nur einer Illusion. Alle fünf Minuten beschreibt der Metallkäfig mit integriertem Schwing- und Hemmungssystem einen kompletten Kreisbogen.

Ohne eine überragende Kompetenz in der Ver- und Bearbeitung von Saphirglas wäre ein mechanischer Mikrokosmos wie dieser völlig undenkbar. Zum tragenden Element haben die Techniker und Uhrmacher eine entspiegelte sowie einmal mehr außen verzahnte Saphirglasscheibe erkoren. Das Uhrwerk setzt sie mit Hilfe eines unsichtbar seitlich montierten Antriebsmechanismus in Bewegung. Eine Beschleunigung der transparenten Trägerplatte um den fünffachen Wert, also auf minütlich eine Rotation hätte das 25-fache an Energie verlangt. Wie bei Tourbillons allgemein üblich kam es kam auch hier auf jedes Hundertstelgramm an. Der dreiarmige Käfig mit den gangregelnden Komponenten wiegt lediglich 0,28 Gramm. Innen oszilliert die Ringunruh mit drei Hertz. Will heißen: Stündlich vollzieht sie 21.600 Halbschwingungen. Das 35,5 Millimeter große, fünf Millimeter Uhrwerk will nach spätestens 52 Stunden manuell mit frischer Energie versorgt werden. Ausdruck technischer und uhrmacherischer Exzellenz ist das Genfer Siegel, welches sich auch auf die Ganggenauigkeit bezieht. Die insgesamt 242 Teile umfängt ein 45 Millimeter großes Platingehäuse.

 


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