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Tourbillon-Revival bei Baume & Mercier

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Die Reduktion auf das Wesentliche steht bei der eidgenössischen Traditionsuhrenmarke seit jeher hoch im Kurs. Diesem zeitlosen Prinzip huldigten übrigens schon Joseph-Célestin und Louis-Victor, jene Mitglieder der Familie Baume, welche 1830 in Le Bois, einer kleinen Ortschaft im Berner Jura, die „Société Baume Frères” gründeten.

Joseph-Céléstien und Louis-Victor Baume

Freilich waren die Baumes keine Neulinge im Zeitmess-Business. Mit dem Uhrmacherhandwerk hatten sie sich seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt. Den Anfang markierten aller Wahrscheinlichkeit emaillierte Taschenuhren. 1844 begab sich Joseph-Célestin nach England, um einschlägige Handelsbeziehungen aufzubauen. Die beschwerliche Reise erwies sich als voller Erfolg, denn sie brachte die Gründung der Londoner Niederlassung Baume Bros. Anschließend öffneten Uhren mit den Signaturen „Waterloo”, „Diviko” und “Sirdar” ferne Märkte in Australien und Neuseeland. Auch bei den großen Weltausstellungen zeigte sich Baume stets von der besten Seite. Attraktive, zuverlässige und präzise Produkte trugen insgesamt sechs Medaillen ein.

Verleihung einer Goldmedaille an Baume & Co. im Jahr 1885

Die absolute, seitdem auch nicht mehr übertroffene Krönung der Bemühung um chronometrische Bestleistungen verkörperte eine goldene Lépine-Taschenuhr mit der Nummer 103018:

Ganz genau handelt es sich um ein seltenes Minutentourbillon mit Feder-Chronometerhemmung. Das Minutenrad-Lager des Uhrwerks besitzt ein verschraubtes Goldchaton.

Uhrwerk des Taschen-Tourbillon Nummer 103018 von Baume:

Erstaunlich für die damalige Epoche: Die bimetallische Kompensationsunruh und ihre Breguetspirale vollziehen stündlich 21.600 Halbschwingungen. Die für seinerzeitige Verhältnisse recht hohe Unruhfrequenz trug sicher ihren Teil zu den vorzüglichen Gangleistungen bei. Beim Blick auf das Uhrwerk wird Kennern beinahe augenblicklich klar, wer für seine Herstellung und Regulierung verantwortlich gezeichnet haben dürfte:

Tourbillon Nr. 71 von Albert Pellaton-Favre gegen 1900, Foto (C) Uhrenmuseum La Chaux-de-Fonds

Albert Pellaton-Favre, 1834 - 1914, geboren in Le Locle. Geboren wurde einer der bedeutendsten Tourbillon-Bauer seiner Zeit als Frédéric Albert Pellaton. Durch die Hochzeit mit einer Favre nahm er den späteren Namen an.  Dem Meister sind vermutlich 82 hochrangige Tourbillons zu verdanken. Sein am Heiligen Abend 1873 geborener Sohn Jämes-César Pellaton, einer von acht männlichen Nachkommen übrigens, avancierte später zum Direktor des Technicums in Le Locle. Ihm ist ein Standardwerk über die verschiedenen Hemmungen in Uhren zu verdanken.

Doch zurück zu besagtem Tourbillon: Im Jahr 1892 nahm es seinen Weg nach England und dort zum 1884 gegründeten Observatorium in Kew, einer chronometrischen Pilgerstätte jener Tage. Dort dominierte seinerzeit englische Uhrmacher die 1951 eingestellten Chronometerwettbewerbe. Wer mit seiner Taschenuhr, egal ob ohne oder mit Drehgang, egal ob mit Anker- oder Chronometerhemmung, mindestens 80 von 100 möglichen Genauigkeits-Punkten erhielt, durfte sich über ein international höchst renommiertes „Class A Certificate“ mit dem Traum-Vermerk „besonders gut“ freuen. Die schwierige Prüfung mit nur vier durch Grenzwerte klar markierte Fehlerarten nahm lange 44 Tage in Anspruch, erfolgte in fünf Lagen und bei drei verschiedenen Temperaturen. Logischer Weise konnten nur absolut fehlerfreie Uhren den rein theoretischen Wert 100 erzielen. Insofern waren die 91,9 Punkte des von William Baume eingereichten Taschen-Tourbillons ein wahrhaft sensationeller Wert, der in den folgenden zehn Jahren nicht mehr übertroffen wurde.

Cuvetten-Gravur des Kew Sieger-Tourbillons 1892 von Baume

Das freute William Baume, der sich 1912 auch mit diesem Adelsprädikat wieder einmal auf Reisen begab, um seine Erzeugnisse zu präsentieren und neue Kunden zu gewinnen. Im Genfer Uhren‑ und Juweliergeschäft Haas lernte er den Uhrmacher und Juwelier Paul Mercier kennen.

William Baume und Paul Mercier, geborener Tschereditschenko 

Der geborene Tschereditschenko hatte sich wegen seiner umsichtigen Geschäftsleitung und großer handwerklicher Fertigkeiten schon einen allgemein anerkannten Namen erworben. Diese Begegnung blieb nicht ohne Folgen. Immer wieder und immer öfter trafen sich die beiden. Sie diskutierten, schmiedeten Pläne und stellten die Dauerhaftigkeit ihrer spontanen Sympathie fest. Handfeste gemeinsame Interessen ließen allmählich die Idee reifen, den beruflichen Weg künftig miteinander zu beschreiten. Am 26.11.1918 unterzeichneten sie den Vertrag zur Gründung von Baume & Mercier mit Firmensitz in Genf.

Wenn zwei Künstler ihres Fach engagiert zusammenwirken, kann der Erfolg nicht ausbleiben. 1921 erhielt die junge Firma den begehrten „Poinçon de Genève”.

Zuerkennung des Genfer Siegels für Baume & Mercier, 1921

Taschenuhr von Baume & Mercier mit Genfer Siegel, 1940

Die Bedingungen für den Gebrauch des „Genfer Siegels” regelte in jenen Jahren ein Gesetz vom 6. Dezember 1886 über die freiwillige Qualitätskontrolle von Taschenuhren am Genfer Observatorium.

1937 zogen sich zuerst William Baume und dann auch Paul Mercier aus dem Tagesgeschäft zurück. Dafür trat der Juwelier Constantin de Gorski in das Unternehmen ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die hohe Nachfrage einen großen Aufschwung mit sich. Baume & Mercier konzentrierte sich auf klassische Herrenuhren, sportliche Chronographen und Damen‑Schmuckuhren, unter denen wiederum das Modell „Marquise” besonders herausstach. Im Wettbewerb gegen internationale Konkurrenz konnte die Familie Piaget 1965 die Aktienmehrheit an Baume & Mercier erwerben. 1988 verkauften Cristian und Yves Piaget 60 Prozent ihrer Anteile an der Piaget Holding S.A. und der Baume & Mercier S.A. an die Cartier Monde S.A., Paris. 1993 gingen Piaget und Baume & Mercier ganz in den Besitz der Vendôme-Gruppe, heute Richemont über.

Headquarter von Baume & Mercier im Genfer Stadtteil Bellevue

Unter der Ägide von CEO Alain Zimmermann

knüpfte Baume & Mercier bereits Ende 2013 an die großartige Tourbillon-Vergangenheit. In Kooperation mit der Werkeschwester ValFleurier entstehen 30 Exemplare einer goldenen, 45,5 Millimeter großen Edel-„Clifton“. Preis rund 47.000 Euro. Ihr Handaufzugskaliber P591 mit 50 Stunden Gangautonomie verfügt über ein „fliegendes“ und deshalb rückwärtig kugelgelagertes Minutentourbillon. Ganz zeitgemäß oszilliert die Unruh hier mit vier Hertz, was stündlich 28.800 Halbschwingungen entspricht.

Das “Clifton Flying Tourbillon” von Baume & Mercier und seine Komponenten

Beim Begutachten der vielen Museumsstücke, die Baume & Mercier inzwischen gesammelt hatte, und über die ich hier zu einem späteren Zeitpunkt noch Näheres  berichten werde, konnte ich auch mit Alain Zimmermann sprechen. Das Interview ist in meinem Blog-Radio zu hören.


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